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Die Kirschen

 


Auf dem Heimweg denke ich an Kirschen. Es ist Mai und auf der anderen Seite des Bahndamms sehe ich sie rot leuchten in der Sonne.
 
Weit und breit niemand zu sehen. Das Fahrrad abgestellt. Abschließen? Nein. Hier ist niemand. Durch Dickicht geht ein Weg auf das Bahngelände zu. Unter Zweige duckend kommt mir ein Mann entgegen. Seine Unsicherheit gibt mir Mut und um sich in dem unwegsamen Gelände selbst Mut zu machen, spricht er mich an. Er sei aus dem Zug ausgestiegen nachdem dieser nicht mehr weitergefahren sei. Wie eine Entschuldigung klingt das, und wie, um mich abzulenken, fragt er nach dem Weg zur Straße. Später wird mir klar, dass ihn mein schaffnerblaues Jacket irritiert. Ich zeige ihm den Weg und lasse ihn an mir vorüber. Schlechter Atem. Alkohol. Untersetzt und unrasiert.
Im Weitergehen erscheint vor meinem inneren Auge eine Szene, in der ich den Mann von meinem Fahrrad zerre. Ich habe es nicht abgeschlossen, denke ich, ich muß zurück, ihm nach. Meine Trägheit widerspricht. Etwas will mich zum Umkehren zwingen, aber meine Ratio lehnt sich gegen mein Mißtrauen auf. Er muß befürchten, dass ich ihn beobachte. Innerlich wanke ich noch immer, bis ich mir, um mir Luft zu machen, zurufe, Schluss jetzt, und wenn schon, altes Klappergestell. 
Nun die Gärten. Da und dort hineingeschaut, aber dann doch schnell wieder zurück auf die andere Seite. Vielleicht sehe ich ihn noch. Aber niemand ist zu sehen. Niemand und nichts. Auch mein Fahrrad nicht. Der ganze Platz ist leer. Ich reibe mir sogar die Augen um besser sehen zu können. Aber der Platz bleibt leer. Auch als ich hin und her laufe wie ein Blinder um es wenigstens ertasten zu können. Gerade war es noch da, denke ich, es muss noch da sein, aber es bleibt weg. Die Bilder hat mir mein Instinkt richtig eingespielt, aber meine Vernunft hat sie verworfen.
Ich gehe zur Straße vor. Frag jemanden, sage ich mir. Aber was soll ich fragen. Haben Sie einen kleinen dicken ungepflegten Mann Schlangenlinien fahren sehen? Langsam trolle ich mich nach Hause und ärgere mich über die Dummheit meinem Instinkt nicht nachgegeben zu haben. Die Kirschen, die ich finde, schmecken nicht. Sie sind rot und süß und umsonst. Aber sie haben mich mein Fahrrad gekostet.
Mit dem Rad des Nachbarn fahre ich durch unser Wohngebiet und suche. Irgendwo steht es, denke ich. Aber nichts, ich fahre fast überall herum, nichts. Dann zum Bahnhof. Überall Räder. Freistehende, angelehnte, angekettete, rostige, neue und alte, gesicherte und besitzlose, wertvolle und solche die ausgeschlachtet auf ihre Entsorgung warten. Mein Blick schult sich. Obwohl es dämmert, sehe ich
schon von weitem, ob ein Fahrrad, und in welcher Art es abgeschlossen ist, welcher Marke es angehört, und, wenn es meinem ähnelt, in welchen Details es sich von ihm unterscheidet. Ich studiere, wie viele ohne Schloss, verwahrlost, achtlos hingeworfen daliegen und erschrecke, als ich merke wie ich schon damit beginne die Fundorte zu kartieren. Hunderte  von Rädern habe ich überprüft. Es ist dunkel. Ich fahre nach Hause. Tagelang werde ich noch Fahrräder beobachten. Ich werde lernen schon von weitem, an der Art wie ein Rad angelehnt ist, zu sehen, ob es abgeschlossen oder vergessen ist.
Zwei Wochen später entdecke ich auf diese Weise ein herrenloses Rad, das meinem bis auf die Lampe und noch eine Kleinigkeit gleicht. Ich setze Frist. Wenn es in drei Tagen noch genauso dasteht, ist es meines.
Am Abend beschließe ich nach einer Wiese auf dem Schönberg zu suchen, auf der, in einer geheimen Ecke, ein Baum steht, dessen dicke, süße und rote Kirschen uns schon einmal begeistert haben. Leider erfolglos. Die Wiese bleibt, wie schon in der Woche zuvor, verschwunden. Vom Regen durchgepeitscht komme ich vom Berg herunter, frierend, Wasser in den Schuhen.
Kurz vor meinem Haus läuft mir ein Mann über den Weg, der lustig pfeifend daherkommt und merkwürdig mit den Armen schlenkert.
Erst diese Geste, dieses Schlenkern, lässt mich genauer hinsehen. Ein Bild, das mindestens zwanzig Jahre alt ist. Solange habe ich es nicht mehr gesehen, dass jemand zwei Flaschen Bier im Finger-Henkel über die Straße transportiert. Und wie ich ihm nachschaue, diesem Gang, dieser Haltung, klein, untersetzt, erkenne ich ihn wieder: meinen Freund von der Bahnlinie.
Ihn stellen oder ihn sein lassen und mir nicht meine Laune verderben  lassen. Oder ihn verfolgen. Ich denke an das Wasser in meinen Schuhen und meinen nassen Aufzug. Meine Hose ist mit Schlamm verspritzt. Meine Haare tropfen. Das alles im Licht weggeblasener Wolken in der Feierabendstimmung eines sozial gut gemischten Wohnviertels. Diesmal gebe ich meinem Instinkt nach. Nicht denken, sondern die Verfolgung aufnehmen. Wie auf einem Thron sitze ich auf meinem aus Kellerteilen reaktivierten Ersatzrad und fahre dem Mann hinterher. Seine gute Laune steckt mich an. Ich lehne mich zurück und bin neugierig wohin er mich führt. Seine Flaschen im Henkel schlendert er von Haus zu Haus, dicht gefolgt von dem Knirschen meiner Reifen auf dem Kies der Querwege. Ich habe genug Zeit mir eine Strategie zu überlegen. Zunächst will ich seine Stimme hören um mir ganz sicher zu sein. Den Akzent habe ich noch im Ohr.
Als er auf einen Eingang zuläuft muß ich innerlich auflachen. Dort steht, mit einem fremden Schloss angekettet, mein Fahrrad vor der Tür. Von meinem täglichen Weg drei Häuser weiter. Mit einem Blick identifiziere ich es anhand seiner besonderen Merkmale. Das einzig Fremde ist der Korb auf dem Gepäckträger und das Zahlenschloss.
Ich spreche ihn an und frage ihn nach einer Straße. Als er mich mit seinen rotgeränderten, leicht zu geschwollenen Augen misstrauisch mustert, frage ich ihn: „Kennen wir uns nicht?“ Geistesabwesend mit dem Kopf schüttelnd schaut er an mir vorbei auf das Fahrrad mit dem Zahlenschloss und verneint. Doch, sage ich, wir kennen uns, und zwar durch das was er gerade angeschaut habe. Dieses Fahrrad sei meines und das wisse er wohl ganz genau. Wieder schüttelt er mit dem Kopf. Sein Blick ist der eines Tieres, das sich verkriechen will, aber vor Schreck gelähmt ist. Er wohne hier nicht, sagt er, ich könne das Fahrrad mitnehmen, er habe nichts dagegen, er sei nur auf Besuch gekommen. Mit dem Rad hier, und dabei sieht er es verächtlich an, habe er nichts zu tun. Die Stimme ist die des Mannes aus dem Unterholz, nur sein Dialekt stimmt nicht. Jetzt redet er fast alemannisch, doch bei genauem Hinhören hat seine Aussprache einen Akzent, den ich nur deshalb heraushöre, weil ich ihn muttersprachlich kenne: Sächsisch. Vielleicht ist er trotz allem gefasst und kann seinen Ausdruck kontrollieren, denke ich. 
Nachdem ich ihn dreimal, jedesmal mit Bedenkzeit, aufgefordert habe mir das Fahrrad zurück zu geben und er sich immer noch standhaft weigert, beschließe ich die Polizei zu holen. Drei Minuten später bin ich Zuhause. Von dort telefoniere ich. Die Polizei will eine Anzeige des Diebstahls haben, bevor sie tätig werden kann. Erst als ich von Verdunklungsgefahr spreche, davon dass ich den Täter habe und dass dieser aufgeklärte Fall gut für die Statistik ist, kann ich die Kollegin von der Polizei davon überzeugen, dass sie mir einen Streifenwagen schickt.
Die Kinder sind fasziniert. In allen Einzelheiten wollen sie alles hören während ich mir die nassen Kleider vom Leib ziehe und in trockne, warme schlüpfe. Im Gehen nehme ich das schaffnerblaue Jackett vom Haken, an dem der Dieb mich ein paar Minuten später verdutzt als der von der Bahnlinie wiedererkennt. Die Streife trifft ein, stellt die Identität von uns beiden fest, verhört uns getrennt, dann zusammen, dann nochmals getrennt. Der Mann bestreitet immer noch, obwohl er seiner Freundin einmal das Wort abschneiden muß, als sie nach dem gestohlenen Fahrrad befragt, aus Versehen von seinem spricht.
Per Funk wird ein Transporter angefordert, das Schloss aufgebrochen und das Rad in staatlichen Gewahrsam genommen. Noch zwei Männer denke ich, „vier Beamte“ sage ich. Später werden sie einen Bericht schreiben, dann zwei Ladungen, zwei Verhöre, alles immer mit Protokoll. Sie beruhigen mich und schieben mich zur Tür hinaus.
Auf dem Heimweg denke ich an Kirschen. Es ist Mai. Niemand ist hier. Ein Mann kommt mir entgegen. Was sucht er an der Bahnlinie? Ich muß zurück. Die Kirschen, denke ich. Was haben sie mit meinem Fahrrad zu tun? Frag jemanden! Auf der Wiese entdecke ich ein herrenloses Rad. Dieses Schlenkern der Arme. Nur drei Häuser weiter. Das Verhör. Alles dreht sich um sich selber. Diesmal rückwärts.

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