Sutur Beirut, Baradi Beirut, die Vorhänge von Beirut
Virtuelle Ausstellung auf www.kunstlabor-freiburg.de von Theo Hofsäss
Kurator: Antoine Tanios, Büro der Abstract Art Academy für den Nahen Osten
Es ist April in Beirut.
Die Sonne scheint, leichte Brise von West, angenehme Temperaturen. Die
Luft riecht frisch nach Meer, die Lippen schmecken leicht salzig. Weit
nach oben ragende, meist betonierte Häuserfluchten in der
Innenstadt. Überall Balkone vor den Wohnungen, oft über die
ganze Breite des Hauses. Die Hälfte davon ist verhängt, mit
Vorhängen.
Wo einer ist, häufen sich auch
andere. Es gibt sie in allen Varianten. Manche flattern im Wind, andere
sind festgebunden, verschnürt oder kunstvoll verflochten. Manche
sind neu und sauber, anderen hat der Wind und das Salz in der Luft
schon den Saum abgefressen oder Löcher gerissen. Sie sind lang
oder kurz, schmal oder wandbreit, einfarbig oder gemustert, bunt oder
farblos. Manche leuchten grell, andere hat die Sonne gebleicht. Staub
und Salz haben sich zu einer Schicht verbacken, die alte Vorhänge
steif hält. Gerissenes hat man gelassen oder repariert: verklebt,
vernäht oder ersetzt. Tausende von Vorhängen in der ganzen
Stadt. Der Anblick monotoner Wohnblocks wird dadurch lebendig. Für
einen westlich geprägten Beobachter mutet es an wie der Versuch
zur Verschönerung des Stadtbildes oder der Verschleierung der
Tristesse moderner Beton-Architektur. Aber nicht überall…
Ich vermute, dass man sie des
Staubes oder der Hitze wegen angebracht hat. Aber ganz schlüssig
kommt mir diese Erklärung nicht vor, denn Vorhänge gibt es
auch ganz oben, im achten, zehnten oder zwölften Stockwerk, wo die
Luft rein ist. Dazu sind die Temperaturen um diese Jahreszeit in der
Sonne frühlingshaft angenehm. Die Vorhänge sind geschlossen.
Und ich bleibe vorläufig bei meiner Deutung. Aus ästhetischem
Interesse fotografiere ich die Fassaden. Mir kommt es vor wie eine
Installation des Stadtbildes, aber ich spüre, dass diese
Wahrnehmung eine künstliche ist, dass ich meine Wahrnehmung
hierher mitgebracht habe. Ich nehme die Dinge wahr, wie ich es gewohnt
bin, die Welt und die Schere im Kopf.
Jedes Mal, wenn ich den
Auslöser meiner Kamera betätige, habe ich das Gefühl
etwas Wesentliches dieser Stadt zu fotografieren, etwas was diese Stadt
von anderen unterscheidet.
Aber ich habe keine richtige
Vorstellung davon, was dieses Wesentliche sein könnte. Ein naiver
Tourist, stolpere ich weiter, den Blick nach vorn, oben, zurück
gerichtet, das Auge am Sucher.
Die Vorhänge verleihen den
rechtwinklig, quaderförmigen Wohnblocks etwas vom Charakter der
Zelte von Nomaden in vergangenen Zeiten arabischer Wüsten und
Landschaften, denke ich. Als ich später Monsieur Tanios, dem
Direktor des Büros der Abstract Art Academy für den Nahen
Osten, erzähle, dass mich die Beiruter Vorhänge
beschäftigen, erklärt er mir, dass die vor den Balkonen
hängenden Tücher und Stoffe die Innenwelt moslemischer
Wohnungen gegen das Draußen abschirmen. Konkret: die Frauen
sollen vor den Blicken der anderen, vor allem anderer Männer,
geschützt werden. Damit sich die Frauen in der Wohnung und auf dem
Balkon frei bewegen können, wird der Balkon, das Fenster
verhängt. Man finde diese Bedeckung und Verschleierung nur in
moslemischen Vierteln, sagt Monsieur Tanios und deutet im Vorbeifahren
auf ein Ensemble besonders vielfältiger Häuserverschleierung
dieser Art.
Betrachtet man die
Konnotationen des arabischen Begriffs sitaar für Vorhang, so zeigt
uns deren Übersetzung wie vielschichtig das Phänomen dieser
Verschleierung ist. Neben den bekannten Begriffen im Umfeld des
Verhängens, Bedeckens und Verdeckens schwingen schon philologisch
die Bedeutungen des Verschleierns im Sinne von vertuschen,
verheimlichen und verdunkeln auf der einen Seite und des Jemandem
Schutz bieten auf der anderen Seite mit.
Wieder einmal wird mir
bewusst, dass mir mein kultureller Erfahrungshintergrund bei der
Wahrnehmung unbekannter Beobachtungen einen Streich gespielt hat. Die
Beiruter Vorhänge sind ein Symbol für die Spaltung und
räumliche Segregation der libanesischen Gesellschaft in die beiden
nahezu gleich starken Anteile christlicher und moslemischer
Religionsgemeinschaften. Dass mich, den Fremden, vor allem der
ästhetische Aspekt anspricht, ist ein Luxus. Aber ich wünsche
dem Land den Luxus solcher Betrachtungen.
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Sitaar, Sutur(pl) [arab] bedecken
- bemänteln
- Jacke
- Schleier
- verhängen
- verheimlichen
- vertuschen
- Vorhang
- jemandem Schutz bieten
- die Stadt verdunkeln
- sein Gesicht verschleiern
- Deckung
- verdecken
- Verschleierung
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